Mittwoch, Mai 31, 2006

Gründe benennen konnte er keine konkreten, aber schon lange hatte José sich nicht mehr so zermatscht gefühlt.

Dienstag, Mai 30, 2006

Onkels Worttrostpflaster

Von der Kuppe aus hat man einen herrlichen Blick ins sanft geschwungene Tal. Doch heute irrt der Blick unruhig, mag sich nicht freuen. Nicht, dass der Anblick nicht erfreulich wäre. Er ist köstlich wie immer. Das Tal sonnt sich entspannt, die kleinen Dörfer recken und strecken sich hügelan. Doch ich merke es gar nicht wirklich. In meinem Bauch klumpen Sorgen in flauem Unterdruck. Fast schmerzhaft kitzeln die Eingeweide, als durchsausten ängstliche Hummeln die Bauchhöhle. Das irre Geflirre dehnt sich aus, quetscht die Kehle zu. Ich liege am östlichen Rand der Kuppe im schrägen Frühsommerlicht unter einer sattgrünen Eiche, ganz für mich, als Onkel Jiří nähergeschlurft kommt.

Eine Pfeife wippt in den Mundwinkeln unter seinem silbernen Zwirbelschnurrbart. Stoßweise hüpfen Wölkchen aus dem Pfeifenkopf. In seinem Nacken schläft Tannenzapfen, sein zahmes Eichhörnchen, dessen buschiger Schwanz sich um Jiřís Hals geschwungen hat. Sein kugelrunder Bauch schaukelt im Takt der Schritte und spannt unter seinem senfgelb-braunen Holzfällerhemd. Während er mir entgegenschlurft, ploppt plötzlich einer der Hemdleistenknöpfe ab. Er bückt sich, durchwuschelt Grashalme und pult den Knopf aus dem Rasengeflecht zu seinen Füßen. „Oh, da habe ich wohl zu kräftig eingeatmet“, krächzt er heiser, als er schon fast bei mir angekommen ist. Seine Augen funkeln vergnügt, doch als er mich länger anblickt, wird sein Blick seltsam blass und ernst. Er kniet sich neben mich, nimmt Tannenzapfen von seinen Schultern, das sich erst schläfrig mit den Pfoten die Augen reibt und dann die Eiche über uns hinaufhüpft.

„Zapatka, was ist los?“ „Ich weiß nicht, meine Ohren hängen heute ein wenig.“ „Ei. Wieso bist Du traurig? Wer hat Dir was getan?“ „So richtig eigentlich niemand, aber der Emil stand heute in der Schule bei der Evá und hat sie in der Pause heiß umschwänzelt. Und dann hat er ihr ins Ohr geflüstert, und dann hat sie mit dem Finger auf mich gezeigt, gekichert, und gequietscht: ‚Zapatka ist eine Mottenkugel! Kugelrund und stinkt!’“ „Der Emil, diese Frettchenschnauze! Den habe ich letzte Woche erwischt, wie er mit der Rosenschere einfach den Weidezaundraht, unten am Bach, kaputtgeknipst hat. Und die Evá, wer ist die?“ „Sie ist in der Nachbarklasse, ich mag sie eigentlich sehr gern.“ „Ist das die kleine mit den Rotweinlocken?“ „Ja.“ Eine Krokodilsträne kullert in Schlangenlinien meine Wange hinab. „Sie hat so ein klingelndes Lachen und ein lustiges Kleid mit Delfinen drauf.“

Onkel Jiří zupft an seinen Schnurrborsten, seine Stirn kräuselt sich zu kleinen Bergen und Tälern. „Dann tut es besonders weh, wenn sie so etwas Blödes zu Dir sagt.“ „Ja“, seufze ich und erschrecke wie sich meine Stimme, halb erstickt, überschlägt. „Und dabei bist Du doch kein bisschen dick und rund und stinken tust Du schon gar nicht. Da ist der Emil doch viel schlimmer. Der lässt doch sogar Papierschiffchen in der Jauchegrube schwimmen.“ „Ich weiß“, schluchze ich, während mir Onkel Jiří durch die Haare streichelt. Und dann brummt er „Wer lacht und mit dem Finger auf andere zeigt, ist in Wirklichkeit mit sich im Unreinen und will nur von sich ablenken. So wahr ich Jiří Kolář heiße, wenn jemand dick ist, dann vielleicht ich. Sollen sie doch über mich lachen. Mir macht das nichts. Ich habe Gurken gegessen, groß wie Bahnschranken und Äpfel, auf denen die Wartburg stehen könnte. Es hat mir geschmeckt und gut getan!“

Ich musste lachen. Er lachte zurück und klopfte seine Pfeife auf einem Stein neben uns aus, ehe er etwas sagte, was ich nicht ganz begriff. „Hör keinesfalls zu wachsen auf, bevor Du nicht mit einem Bein auf der Erde stehst und mit dem anderen auf dem Mond, damit Du die Sterne abwischen kannst, die matt geworden sind und nicht mehr funkeln, weil sie der Kosmosstaub zwei Finger dick bedeckt. Vor allem aber, lass Dir nicht einmal im Träume einfallen, den Großen Bären zu necken, den Kleinen Bären mit Erdnüssen zu füttern oder gar den Polarstern abzulutschen wie ein Eskimoeis, Du fielest sonst wie eine reife Birne aus der Höhe und nur ein Fettfleck bliebe von Dir übrig.“

Sonntag, Mai 28, 2006

Der George und der Tony und der Ort, wohin sie einander vielleicht mitnehmen würden

Zwei, drei Jahre hat der Song schon auf dem Buckel und auch das Video ist nicht mehr so taufrisch wie der junge Morgen. Und doch schlitterte, als ich am Wochenende George W. Bush und Tony Blair gemeinsam mit der Presse konferieren sah, ein sprudelndes Grinsen aus der Erinnerung auf mein Gesicht zurück. Seit ich die köstliche Video-Adaption des Electric Six-Nonsenskrachers Gay bar von Camp Chaos gesehen habe, sehe ich gemeinsame Presse-Auftritte der beiden Herren Politiker mit lachenderen Augen. Wer es schon kennt, kann hiermit einen alten Bekannten wieder treffen, allen anderen blüht vielleicht eine erfrischende Neubegegnung.

Freitag, Mai 26, 2006

Forever young?

Sich im Alter wieder jung fühlen zu können, ist manchmal ein zweischneidiges Schwert. Das erfrischende Jungbrunnengefühl, das juvenile Prickeln zerbarst in Hildesheim letzte Woche in tausend Scherben. Vielleicht heißt sie Rita, vielleicht auch nicht, aber sie ist 68. Vielleicht hatte sie Kuchen gekauft, vielleicht auch nicht, aber sie fuhr ihre 92-jährige Mutter besuchen. Und die empörte sich aufs Äußerste über die wilden Männergeschichten ihrer fast 70-jährigen Tochter. Sowas ziemt sich ja nicht. Und was tut Muttern in diesem Fall? Richtig. Sie ruft das Jugendamt an, damit die ihre Tochter wieder auf den rechten Pfad der Tugend zurückführen. Das Jugendamt war sich nach Auskunft der Presse aber mindestens unsicher, inwiefern dieser Fall in ihren Zuständigkeitsbereich fiel.

Montag, Mai 22, 2006

Más turbo!

Wenn es um den guten Zweck geht, sind die Spendierhosen schnell geöffnet, und gern wird für den guten Zweck gerubbelt. In den Vereinigten Staaten, wo jüngst noch die Schwangerschaft durch Selbstbefriedigung wieder in den Kreis wahrscheinlicher Möglichkeiten aufgenommen worden ist, sind offene Spendierhosen und Rubbeln für den guten Zweck nun synergetisch auf neue Art und Weise verbunden worden. Eine neue Art Spendenmarathon, der sich da Masturbate-a-thon nennt. Ähnlich wie bei Benefizläufen Sponsoren aquiriert werden, die pro gelaufener Streckenrunde einen finanziellen Obelix abdrücken, scheint es auch hier zu funktionieren, nur dass die selbstbefriedigte Zeit zum Geldvergabekriterium wird und sexuelle Aufklärungseinrichtungen die Begünstigten sind. Oder so. Genau verstanden habe ich es nicht, fürchte ich. Wen es aber interessiert: Ab dem 27. Mai heißt es: It's time to rubble.

Sonntag, Mai 21, 2006

...tut Wahrheit kund

Voller Inbrunst hatten sie den Koch eingestielt, sein absolut Bestes zu geben. Sie waren schließlich die wichtigste Familie im Dorf, und Hölzerne Hochzeit feiert man auch nicht so schrecklich oft im Leben. Eine Gaumenweide, ein Augenschmaus sollte es werden, so allerfeinst wie es sich sonst auch nur wenige Familien leisteten. Die weniger wichtigen Familien im Dorf schon gar nicht. Knusprigen Hummer sollte es geben, Kaviar, geschmorte Lammkeule toskanisch, Pannacotta, Ossobucco. Die große weite Welt im kleinen Dorf am Südrand der Lüneburger Heide. Und vorweg eine passierte Broccolicrèmesuppe mit Mandelsplittern und Zitronengras. Der Koch schwitzte in der kleinen Küche. Die Rezepte hatte er sich per Telefon und die Zutaten aus der großen Stadt besorgt. Er kochte sonst eher Wiener Schnitzel mit Pommes Schranke, Erbsensuppe oder Strammen Max.

Voller Ehrfurcht begegnete die illustre Runde dem ersten Gang. Vorfreudig klackerten die Silberlöffel auf dem Tisch, es wurde ein Toast ausgegeben, dann verschwanden die Löffel in der grünglänzenden Bouillon. Doch das glitzernde Lächeln auf den Antlitzen wich seltsam. Irgendetwas schmeckte anders als geplant. Ein leiser Hauch von Spülmittel. Doch man musste sich täuschen. Das konnte doch gar nicht sein. Amorphes Gemurmel schwubberte durch den Raum. Alles hinter vorgehaltener Hand. Nur einer brach aus dem Tuschelreigen aus. Der kleine Max. Mit seinen gerade vier Jahren hatte er tapfer die Suppe ausgelöffelt, ehe er sein Besteck wegwarf, mit der Hand auf den Tisch schlug (er konnte kaum über die Platte gucken) und sagte: "Das war schonmal nix!"

Freitag, Mai 19, 2006

Hauen und Stechen

Die Bordlautsprecher des Emsland-Expresses krächzen: „Nächster Halt: Meppen. Ausstieg in Fahrtrichtung rrrechts.“ Neben dem Bahnsteig schlummern wenige rostige Verschiebegleise, liegen da wie von schmutzigem Schatten überzogen. Trockenes Gras wuchert wild durch gelbbraune Schotterbrocken, grünende Hecken, dahinter zweistöckige Backsteinhäuser. Die Scheiben des Treppenabgangs, den Bahnsteig hinab, sind von Rost und Dreck blind geworden. Die Sonne schickt nur zögerlich bleiches, durch den Dunst ermüdetes Licht über die Schienenstränge.

Die Hydraulik zischt, die alarmrote Doppeltüren werden auseinander gezogen. Dicke Basketballtreter mit roten Schnürsenkeln stampfen hinein. Zwei junge Frauen, vielleicht sechzehn, vielleicht zwanzig. „So’n Scheiß, sag ich Dir, kaufste extra ne Wochenkarte und kein Karl Arsch kontrolliert Dich. Keiner von den verfickten Schaffnerwichsern will Deine Karte sehen. Ey Fuck! Weißte, dafür hätt ich mir locker fünf Gramm Gras kaufen können. Aber nee: Die Popelfresser ham’s ja nicht nötig.“ Die Vordere bölkt quer durch den Waggon, ehe sie sich Kaugummi kauend in die Sitze neben mir auf der anderen Gangseite fläzt. Blasse Locken krallen sich wütend an die trübe Stirn, unter der in dunklen Höhlen teerschwarze Augen Funken sprühen. Die ebenso schwarzen Lippen fest aufeinander gepresst, schmal und rissig, wie ein Laubsägeblatt. Während sie keift, ballt die die Fäuste oder spielt mit ihrem silberglänzenden Feuerzeug.

„Ey ich muss morgen wieder zur Drogenberatung. Ma hat angerufen. Ey, kontrolliert Deine Ma Dich auch?“
„Joa“ nuschelt ihre Begleiterin schüchtern. Die Stimme dünn wie der dritte Aufguss mit demselben Teebeutel. Sie zuckt die Schultern. Die Haare kinnlang, blassrot, glatt. Ihre Unterlippe hängt schlaff vor, hinter ihrer Stirn meint man, ein Fragezeichen blinken zu sehen. Es scheint, als liefe die blassgrüne Farbe der Iris in ihrem Auge seitwärts aus, schlierig, trübe, ein wenig wie Fischfond. Ein Schneidezahn fehlt. Gleich mehrere Brandlöcher sorgen an ihrem Trainingsanzug für unerwartete Zusatzbelüftung.

„Aber, ey, zieh Dir das mal rein!“ Die Lockige bölkt umso lauter, reißt das Wort an sich. „Die unterstellt mir auch, ich würd schnupfen. Komm ich nach Hause und erwisch die doch glatt, wie se meinen Müll durchwühlt. Sachtse: ‚Du rauchst zu viel, Kind. So viele Kippenschachteln.’ Sach ich: ‚Ja und? Rauchen is ja wohl auch eine der geilsten Sachen neben Sex, die Du tun kannst. Und watt durchwühlst Du meinen Müll, bekackte Drecksfotze?’ ‚Ich mach mir Sorgen um Dich und Deine Drogen, ich will ja nicht, dass Du vor die Hunde gehst!’ Sach ich: ‚Ich bin doch nicht so strunzendoof, dass ich, sollte ich was nehmen, das hier in meinen Müll schmeiß, oder? Wie hohl bist Du eigentlich, Du Pottsau, dass Du das glaubst? Und wenn Du mit so kacke kommst, schmeiß’ ich gleich noch viel mehr ein. Weil’s geil ist und um’s Dir zu zeigen.’ Und dann flennt die Trulla wieder rum von wegen ich tu ihr weh und so, und ich sach nur: ‚Verpiss Dich, Scheißkuh! Raus! Das ist mein Zimmer!’ Und dann holt sie aus und hebt die Hand über mich und ich sach nur: ‚Waaaaag das bloß nicht! Wenn Deine Hand auch nur ir – gend - ein Körperteil von mir berührt, dann bist Du erledigt! Dann schlachte ich Dich ab, reiß Dir die Eingeweide raus und werf sie Deiner beschissenen Töle zum Fraß vor! Und wenn ich zurück nach Lathen ziehen soll, ey, ich sach Dir, ich lauer’ denen vom Jugendamt auf. Die mach ich eiskalt fertig. Die ha’m so schnell nix mehr zu lachen.“

Sie zieht eine Kippenschachtel aus ihrer Jeansjacke, klappt sie auf, steht auf, durchschlurft das Abteil: „Ey ich bin mal eine qualmen aufm Klo. Scheißladen, Bahn! Ich lass mir das Rauchen doch nicht verbieten, ey!“ Die Blasse bleibt zurück.

Wenige Minuten später stampft die Lockengöre zurück, stößt demonstrativ noch mitten im Abteil ihre letzte Rauchwolke aus. „Ey, weißte was?“, keift sie, als sie, immer noch Kaugummi kauend, wieder in den Sitzen hängt. „Ich hab mich ja vorhin auch noch geprügelt.“ „Echt?“ „Klar. Erst mit meinem Scheißweicheibruder. Und mit Olli, die olle Rennsau. Kack Adoptivsohn. Der hat ne vorlaute Fresse, ey, ich sach so „Moin Olli“, er so „Boing!“, der wird fünf, und knallt mir eine, ey, ich glaub ich spinn, hab ich erstmal ne Kippe in seiner Armbeuge ausgedrückt, boah, ich will nicht wissen, wie der aussieht, wenn er sechzehn ist. Und meine Ma, ey“! ‚Du hast schon lange keine Privatsphäre mehr’, sagt sie. Die olle Fotze, die soll mal lernen, wer hier der Herr ist. Glaub mir, ich hab drüber nachgedacht, ich knall die ab. Von der lass ich mir nichts mehr sagen. Und ich sag Dir, wenn ich Willi die Wahrheit sage, wenn der erfährt, was Mama hinter seinem Rücken macht, dann ist der auch schwupps weg, und dann isse nicht nur bei mir am Arsch. Sie ist doch diejenige, die wegen jedem Schlappwichser die Beine breit macht. Das ist doch die Hammerschlampe, die ist doch der verschissene Pharmakajunkie, die schluckt doch Pillen ohne Ende und die sacht noch, sie macht’s nur für den Alten. Und der Willi sacht echt so an mir: ‚Ich lass nicht zu, dass Du Deine Mutter schlägst.’ Und ich so: ‚Wie willste mich davon abbringen, ihr die Fresse zu polieren? Sie hat’s doch verdient wie nur watt. Und davon bringst Du Winzling mich nicht ab. Und versuchste’s haste’n Messer anner Kehle.’ Das ist nicht das letzte Mal, dass die Alte Angst gehabt hat. Blut soll se kotzen, die verfickte Drecksau! Und wie widerlich ihr bekackter Bankangestellter wohl drauf ist, der muss doch mindestens fünf Minuten lang schlabbrige Hautfalten auseinander wälzen, ehe der überhaupt bei Mamas Loch angekommen ist. Sieht doch auch schon aus wie Hundertachtzig Jahre!“ „Nee… dreitausendmillionentausendmilliarden.“ Ihre stumme Begleiterin freut sich, wie weit sie zählen kann, lacht zahnlos und verstummt wieder, während die Lockengöre weiterkeift. „Und so, wie die sich durche Gegend fickt, und so klein wie dem sein Piss-Schniedel ist, ist datt auch nicht anders, als wennde ne Teewurst innen Hausflur wirfst. Nee, echt, ey! Der scheiß Schlampe prökel ich das Hirn kaputt, nach dem ich sie aufgeschlitzt habe. Mir vorschreiben wollen, von wem ich mich ficken lassen darf oder dass ich gleich gar nicht erst ficken darf und selber in der halben Stadt Flecken auf den Bettlaken hinterlassen, doh! Oder ich puste sie mit der Wumme kaputt, boah nee. Der hetz ich Sergej und seine Bande auf den Hals, und die machen Hackfleisch aus ihr.“ Die Bordlautsprecher des Emsland-Expresses krächzen: „Nächster Halt: Lathen. Ausstieg in Fahrtrichtung lllinks.“ Die beiden steigen aus. Im Herausklettern zischt die Lockengöre noch: „Scheiß Bahnhofsangestellte, Scheiß Schaffner!“ Dann zischt die Hydraulik der Tür wieder zu, und plötzlich ist es seltsam still. Nichts als das monotone Rattern der Räder.

Donnerstag, Mai 18, 2006

Hier die Wahrnehmung, da die harmlose Absicht, die sich diametral mit der Wahrnehmung beißt. Hier die tiefe Verletzung, da Mitgefühl für die Verletzung aber Hilflosigkeit, gegen Eiswände verständlich zu machen, dass alles anders gemeint als aufgefasst war. Hier brodelnde Gischt, da Arme rudernde Hoffnung, sich verständlich zu machen. Hier betroffene Kränkung wegen mangelndem Wohlwollen, da wohlwollende, brennende Zuneigung und Hoffnung auf Vertrauen in das Gesagte, die mit Worten ringt, da ihre Worte nicht verständlich machen können, was sie sagen möchten.

Dienstag, Mai 16, 2006

Verworrene Verwirrung

Das waren noch Zeiten. Als Jungs noch Heinerle und Mannsbilder Kurti hießen. Und alles so verheddert und schwindelig war. Der Vetter Kurti kriegt keine Süße nicht ab und entdeckt den Cognac, obwohl er doch eigentlich Baldrian gegen das Herzklopfen haben wollte. Und schlürft ihn mit der Inge, seiner Sekretärin, die den Schluffi heimlich liebt und ihm den Cognac untergejubelt hat, obwohl er doch eigentlich die Sabine so gern hätte, und sogar zum Geburtstag geschenkt bekommen sollte, die er aber eh nicht bekommen wird, so vertrottelt wie dieses „Wunder von einem Mann“ ist. Und die Inge. Die soll ja hierfür auf den kleinen Sohnemann aufpassen, der gar nicht der Sohnemann ist und nur für Schokolade gekauft wurde, auf Heinerle, den Lausbub, den ältesten von ganzen neun Wuselblagen, die von den Cognacbohnen ganz beschickert werden, als ihre Eltern das Heinerle doch zurückholen wollen, weil das Heinerle ja eigentlich zu ihnen und nicht zum Peter und dem Kurti gehören, die das Heinerle ja nur für ihre Zwecke ausborgen wollten. Und ist auch gar nicht aus Amerika, sondern aus Michelsbach. Das Heinerle flitscht mit Zwillen und malt der Frau Stadlmeier, die auch noch im Haus mit dem Kurti und dem Peter und jetzt auch mit der Sabine wohnt und haushaltet, Schwarzepeternasen und sagt sogar nur wegen der Schokolade „Papa“ zum Peter, obwohl doch sein Vati der Herr Bärwald ist, der ganz eifersüchtig ist und verwirrt plötzlich an seiner Vaterschaft zweifelt, der Depp, während der Peter mit der Inge Klammerblues zu „Andrea“ von den „Monte Carlos“ tanzt. Und dabei hat der Peter zwar eine riesige Tolle aber gar nicht genug Geld dabei für die Unmenge an teurem Schampus, die er und die Sabine getrunken haben, weil ihn der Kurti doch auslösen sollte, der doch noch vor dem Cognac in die Sabine so verliebt war, für den der Peter bei der Sabine gute Worte einlegen und den Erfolgsweg bereiten wollte, obwohl er sie ja selbst ganz zauberhaft findet, doch der Kurti, der doch noch nie Alkohol getrunken hat, wird von der Inge mit ihrem Vulcano-Cocktail abgefüllt, gefügig gemacht, geküsst und überwältigt, verlobt sich gleich noch nachts im Fuseldusel mit ihr und liegt nun sinnenlos zu Haus darnieder, und deshalb müssen sie umso herzzerreißender kuscheln, damit sie den Tanzwettbewerb gewinnen, um doch noch genug Geld zu haben. Und dann stolpert die Sabine in ihr Zimmer, wo der sturztrunkene Kurti schon schlummert, weil er vergessen hat, dass er inzwischen ja einen Stock höher wohnt, und dann schläft er auf der Treppe, und die Frau Stadlmeier stolpert mit ihrem Schwarzpetergesicht über ihn. Und dann kommt auch noch alles raus, weil sich der Kurti verplappert hat und die Sabine sieht, wie das Heinerle den Herrn Bärwald mit „Vati“ anredet, obwohl die Sabine doch dachte, das Heinerle sei wirklich der Sohnemann vom Peter, der ja gar nicht sein Vater ist, denn das ist ja Herr Bärwald, und der Peter hat das Heinerle ja nur von Frau Bärwald ausgeborgt. Und da ist die Sabine ja doch ein bisschen empört und will dem Peter eins auswischen, obwohl sie den Peter ja liebt. Und dann beschwindeln sie alle noch mehr und legen sich rein, doch am Ende ist das Heinerle wieder bei seinen betrunkenen Geschwistern und die Sabine und die Inge fallen ihrem Peter und Kurti um den Hals, denn das Leben, es war zwar enorm kompliziert, aber am Ende immer wunderschön, damals in den Fünfzigern, scheint’s.

Pfingsten: Livepremiere aus Absurdistan

Damals, bei der Abiturientenrede, da war ich nur Ghostwriter und habe meinen Quatsch von anderen Leuten vortragen lassen und selbst im Publikum zugehört. In der Orientierungsstufe (6. Klasse) war ich nur dritter bei der klasseninternen Ausscheidung zum Schul-Vorlesewettbewerb, was mir einen öffentlichen Leseauftritt vor Publikum ersparte. Auf der Bühne habe ich eher die Sticks wirbeln lassen, und mit Groove die Beine beschwingt zucken lassen. Nun wird sich das Blatt Jahre später wohl doch wenden. Auf äußerst freundliche Anfrage von Frau Modeste und Frau Wortschnittchen werde ich an Pfingsten, genauer: Am 4. Juni 2006 ab halb acht abends im "Lass uns Freunde bleiben" in der Choriner Str. 12 in Berlin meinen Mut zusammenkratzen und mein öffentliches Lesedebüt geben. Gemeinsam mit den großartigen Herren Burnster und Kid 37 wird es einen schillernden Reigen abstruser Grotesken und skuriller Obskuritäten zu hören geben. Wer zufällig, absichtlich oder aus anderen Gründen gerade sowieso (oder nur deshalb) in der Nähe sein sollte und Zeit und Lust hat, vorbeizukommen: Ich würd' mich freuen. Man darf gespannt sein. Ich bin's.

Montag, Mai 15, 2006

Ausgänge, wie ich sie liebe

Calypso und Riffrock gehen auf nicht gemeinsam auf eine Kuhhaut? Fußscharrender Schuffelreaggae und Punkkeule schlafen nur in getrennten Betten? Hanoi. Die famosen New Yorker Jungs von "The Exit" verquirlen entlegenst scheinende stilistische Spielarten mit enormem Schmiss und Witz zu betörend brodelnden Klangvulkanen. Virtuos und vertrackt ohne verkopft und frickelig zu sein, rauhlippige Zärtlichkeit, schlaues Geprügel, hauchzarte Härte. Ihr Album "Home for an island", das am 2. Juni in die Läden kommt, gehört schon jetzt zu den Alben und die Band zu den absoluten Entdeckungen des Jahres für mich. Hier kann man sich das Video zur ersten Single anschauen. Hier geht's direkt zur Bandseite mit weiteren Clips und immerhin Livestreamanhörchancen, wo ich doch schon keine legal runterladbare MP3s zum Präsentieren gefunden habe.

Freitag, Mai 12, 2006

Ich habe es (akustisch) nicht verstanden wieso, aber in Münster beginnen die Hörgeräte-Test-Wochen, wie mir ein Schild am Bahnhof verraten hat. Falls es für wen interessant ist, sollte er hierher eilen...

Donnerstag, Mai 11, 2006

Zum Kloster eine Tür weiter bitte

Worüber ich bislang noch nie geschrieben hatte, sind freiwillige Klosteraufenthalte. Ein klein wenig hat sich das geändert. Wenn auch nur bedingt. Aber immerhin. Allerdings gibt es meinen heutigen Text es eine Kammertür weiter.

Mittwoch, Mai 10, 2006

Als Nicky in Rupert erwachte

Rupert betrat die Bühne des Karaoke-Wettbewerbs und umklammerte das Mikrophon mit der rechten Hand. Und nun, ganz plötzlich, als er nach Einsetzen der Musik zu singen begann, war ihm, als würde er selbst zu dem, was er sang. Schon krähte er: "I bin a boarisches Cowgirl", und nur einen Augenblick später spürte er, wie ein Hauch des "Nicky-Feelings", wie er es nannte, in seinem Bauch zu kitzeln begann.

Dienstag, Mai 09, 2006

Nichts gegen Ungeduld und Jähzorn, aber hinfort mit ihnen, wo sie nicht notwendig sind

Wenn Dinge länger dauern, als man möchte, dass sie dauern, beginnt im Innern die Ungeduld zu gnurpsen und Jähzorn beginnt mit zunehmender Dauer seine Krallen auszufahren. So praktisch beispielsweise die Maus auch ist, um mit ihr verworrenste Computermenüs zu durchdüsen, während man damit über hässliche Schaumstoffmatten schubbert, es dauert seine Zeit – umso länger gar, wenn man einen Laptop mit kreisrundem Steuerpinökel oder einem Touchpad sein eigen nennt. Vielfach in Vergessenheit geraten sind hier die um Ecken fixeren Tastaturkurzbefehle. Gerade für die wichtigsten Befehle bei der Arbeit mit Textverarbeitungsprogrammen gibt es schnuckelige Tastenkombinationen, die entnervtes Schrubben auf dem Touchpad oder rudernde Armbewegungen mit der Maus auf dem Schreibtisch überflüssig werden lassen.

Gerade beim aktuellen Werkeln an der Magisterarbeit: Wie Zeit sparend ist es doch, kurz Strg+Alt+F zu drücken, will man eine Fußnote einfügen, anstatt mühsam den Zeiger hochzuschieben, um erst das Menü „Einfügen“, dann „Referenz“, dann „Fußnote einfügen“ und dann noch „bestätigen“ zu klicken. Statt fast 8 Sekunden, die ich mit dem Steuerungspinökel benötige, dauert das Einfügen per Kurzbefehl nicht einmal eine halbe. Gerade bei längeren Arbeiten wie meiner derzeitigen summiert sich das auf. Doch muss man sich solche Tastenkombinationen ja auch merken können. Umso schneller und vergnüglicher geht dies mit den grandiosen Eselsbrücken aus Till Schaffarczyks Bildband „Der Mausetod“, der insgesamt 56 der praktischen Kurzbefehle für den PC und 84 für Apple-Rechner gesammelt und bebildert hat: Alltagssituationen, die Bild und Befehl im Kopf zusammenschweißen. Beispiele? Männerhände, die sich am tückischen BH-Verschluss zu schaffen machen: Strg+O = Öffnen. Ein völlig zerdepperter VW-Käfer, der sich um eine Laterne gewickelt hat: Strg+Z = Aktion rückgängig machen. Ein Pudel, der Herrchens Bein zu begatten versucht: F8=Markieren. Ein riesiger Heuhaufen, in dem sich vielleicht irgendwo eine Nadel versteckt: Strg+F = Suchen.

Selbst, wer die Befehle schon kennt, dessen Mundwinkel hängen kurz vor den Ohrläppchen fest beim Schmunzeln über die enorm witzigen, absurden, teils derben und makabren, teils auch leicht politischen Assoziationen, die Schaffarczyk für das Bebildern der Befehle herausgesucht hat. Ich sage: Wer Ungeduld und daraus erwachsendem Jähzorn einen amüsanten Riegel vorschieben will, sollte mindestens einen Blick in diesen grandiosen Band werfen. So kreativ und vergnüglich haben sich Kurzbefehle bislang noch nicht einprägen können. Und sollte es noch dauern, ehe sich die Kurzbefehle klare Wege aus dem Gedächtnis in die Finger gebahnt haben, kann man den handschmeichelnden, gepolsterten und enorm schicken Band auch vorübergehend immer noch als Mousepad benutzen – bis man die Finger dressiert hat. Das Kunstwerk ist mit knapp 20 € zwar nicht der billigsten eins, aber wenn man überlegt, wie viel Zeit, Ungeduld und Jähzorn man damit sparen kann, ist es am Ende doch fast schon wieder ein Schnäppchen.

(Genaueres weiß ich selbst noch nicht, unter Umständen kann es in Bälde aber unangekündigte Kunstkurzpausen geben, weil meine Magisterarbeit zunehmend mehr Zeit in Anspruch nimmt. Sich Sorgen zu machen, wäre in kürzeren Schweigeperioden nicht. Ich verschwinde garantiert nicht gänzlich von der Bildfläche)

Montag, Mai 08, 2006

Durst ist besser

Ballonseide raschelt beim Schlurfen. Die Trainingshose. Plastikschlappen klappen an den Hacken. Fettglitzernd brutzeln große Wursthaufen auf lebhaft qualmenden Grills. Eine Deutschlandfahne flappt im Wind. Kurze Hosen spannen unter schweißglänzenden Wampen. Wandelnde Dauerwellen schlurfen zum Geschirrabwaschen. Kabeltrommeln dösen in der Abendsonne. In Vorzelten steht staubige Hitze. Josef sitzt unweit der rotweißen Schranke auf einem der weißen Monoblocksessel. Eine Schirmmütze von Bayern München versteckt seine rotverbrannte Kopfhaut. Wenige silbergraue Haarsträhnen lugen darunter hervor. Er hat sich ein Schnitzel bestellt. „Aber ein richtig fleischiges und knuspriges, so wie Deine wuchtigen Schenkel“, lacht er, halb hustend, und klatscht der alten Gertrud wuchtig auf den Hintern. Gertrud führt die Klause am Campingplatz. Und sie kennt fast alle Camper hier seit Jahren. Sie zwinkert Josef zu. „Klar doch, Dickerchen.“ „Und mach mir noch’n Herrengedeck klar. Reiß den Staudamm auf, hier spricht die Sahara!“ „Wird gemacht.“ Irgendwas juckt. Josef schubbert seine Kimme mit dem Zeigefinger. Schorsch schlurft heran. „Noch was frei bei Dir, Jupp?“ „Für Dich doch immer.“ Der Plastikstuhl seufzt hilflos, als Schorsch seinen massigen Leib zwischen die biegsamen Armlehnen quetscht.

„Getrud, mach mir ma wie immer! Ich trockne schon aus. Von innen“, krakeelt er in Richtung Tresen und krächzt Jupp zu: „Viel trinken is’ datt Wichtichste.“ „Da sachste watt“, murmelt Josef, den sie hier Jupp nennen, während er eifrig eine ‚Ernte 21’ aus seinem Edelstahl-Etui zu friemeln versucht. „Datt sach ich Heinzi, also dem Heinz-Dieter auch immer. Aber der trinkt ja fast nix. Schon mal nen Schnaps, aber Wasser, Kaffe, Limo… nix.“ „Und datt bei der Hitze jetzt. Der hat ja bald nix mehr zum Schwitzen.“ „Und nich nur datt. Gestern, als Du mit Hilde nache Stadt gefahren bist, ne? Weißte: Dadurch, dass der Heinzi nix trinkt, oder… was weiß ich… jedenfalls geht der nur alle drei, vier Tage mal kacken.“ „Woher weißt Du, wie oft der kacken geht?“ „Hat Seine Helga meiner Wilma erzählt.“ Jupp lupft die linke Augenbraue. „Soviel, wie der in sich hineinschaufelt, und dann nur alle drei Tage? Wo lässt der datt denn?“ „Komprimieren ist datt Stichwort, datt sach ich Dir.“ „Komprimieren?“ „Kom-pri-mie-ren! Ver-dich-ten! Seine Gedärme pressen alles Verdaute so dicht und fest zusammen wie möglich. Wie Beton! Und das passt dann trotzdem. Scheinbar.“ „Ach…“

„Jo, na ja… und gestern nun saß ich mit meiner Wilma draußen. Sie stopft mir Zigaretten, ich schraub die neue Gasflasche an, da brüllt das ausm Waschhaus, ne? ‚Heeeeeeeeeeeeeellllgaaaaa!’ Und noch mal ‚Heeeeeeeeeeeeeellgaaaaaaaa!’“ „Der Heinzi?“ „Jo.“ „Sach bloß.“ „Und Helga rennt dann gleich nachm Waschhaus hin, wahrscheinlich auch Angst und so, dass was passiert ist, und kommt kreideweiß aber lachend wieder raus, holt Essbesteck und rennt wieder hin.“ „Hä?“ „Ich sach Dir, das hat die Helga selbst der Wilma erzählt: Der Heinzi hatte ne derart große und steinharte Riesenwurst inne Schüssel gesetzt, datt glaubt man wohl gar nicht. Und die ließ sich nicht wegspülen. Da hat er komplett hilflos Helga gerufen, damit sie mit Messer und Gabel seine Wurst klein schneidet, sodass er sie dann endlich wegspülen kann.“ „Potz Blitz!“ „Und deshalb sag’ ich jetzt erst recht: Immer regelmäßig ölen und durchspülen, den Körper. Nich, datt wir da nachher auch aufm Schont zu Haufen hängen und den Backstein erst kaputtsprengen müssen, eh die Spülung dat Gedöns aus der Schüssel drücken kann.“ Schorsch reibt sich den Bauch. „Also, watt is’ nu, Gertrud? Solln wir hier verdursten?“

Freitag, Mai 05, 2006

Oh Doktor, mein Doktor...

Huibuh! Mir sitzt ein Geist im Nacken, ich höre Stimmen, die grässlich fluchen. Mein Hals sitzt voller Eis. Ich kenne einen Walzer tanzenden Zwerg, aber es zwickt und zwackt so übel, wenn ich lache. Nur er weiß, was passiert – er ist mein Lieblings-Anstandswauwau.

Dr. Mowinckel.

Nebel beschlägt sein Monokel, er tanzt Samba auf dem Podium, weiß, wie er mit seinem Schwert zu rasseln hat und spielt mit dem Adel Poker. Er weiß, wo Du wohnst, bleibt immer auf dem Laufenden. Die beste Medizin ist gleich zur Hand.

Dr. Mowinckel

frei nach "Dr. Mowinckel" von Kaizers Orchestra

Donnerstag, Mai 04, 2006

Le printemps de la nuit

Rußfilter fangen Feuer im zerknirschten Gelächter der Nacht. Reingewaschene und überpinselte Masken staksen auf hohen Hacken über den Prachtboulevard. Frühlingsgefühle wölben sich unter knapp dekolletierten Brüsten. Staub rollt hinter dem Fernseher zu einsamen Fusseln zusammen, unbemerkt und nicht beachtet. Der Abglanz der Mattscheibe flackert an der posterbeklebten Rückwand. Ein Hauch von Nichts durchweht das Etwas. Ein Türsteher schnäuzt sich in ein besticktes Stofftaschentuch. Vor der Westfalen-Tanke kauert ein leer getrunkenes Bierflaschentrio ohne Zukunftsvorstellung. Speichelbefeuchtete Lippen saugen lustberstend aneinander. Der Nachtbusfahrer steht rauchend neben dem großen Aschenbecher an der Haltestelle und tritt seine Kippe auf dem Gehsteig aus. Sterne durchglitzern das samtschwarze Firmament. Von niemandem gesehen hoppeln wilde Kaninchen zwischen letzten Osterglocken über das grasbewucherte Rund des Verkehrskreisels. Die Nachtschwester auf der Neurologie gießt sich Kaffee nach, um den tauben Müdigkeitsschleier zu verjagen, der sie in ihrer ereignislosen Einsamkeit umfängt. Ein Taxifahrer kreuzt auf menschenleerer Straße das Haus seiner Ex-Frau und bekommt für einen Moment feuchte Augen und das Bedürfnis sie anzurufen. Sein Fahrgast kurbelt plötzlich das Fenster herunter, hält seinen Kopf bei voller Fahrt hinaus und übergibt sich. Ein Baseballkappenträger kramt die letzte Fruchtgummigurke aus der zerknitterten Papierspitztüte vom Kiosk und starrt den blassen Lichtschein der Straßenlaterne über sich an. Ein schmerbäuchiger Fettberg mit Halbglatze torkelt aus seiner Stammkneipe, lacht kurz und wirft ein abgegrabbeltes Skatblatt in einen wildfremden Briefkasten. Der wird Augen machen, der das morgen findet. Eine verschnupfte Gärtnerin wird vom Laufradgeratter ihrer Rennmäuse wach, windet sich entnervt unter ihrer Decke und trägt den Mausekäfig irgendwann entnervt ins Badezimmer, ehe sie endlich wieder einschlummert. Sie träumt von einem unglaublich gut aussehenden Dracula. Ein Ringelpulliträger mit frappierender Jesus-Ähnlichkeit schiebt sein plattes Fahrrad dem Morgenrot entgegen.

Mittwoch, Mai 03, 2006

Aus neun mach elf

Erst war sie Frankreichs heller Mond, ein silbergleißender Strahl am Firmament aus Zeichen, dann zottelten die Locken. Aus Nichts und Nacht entkrabbelte ein Prickeln, erst zeitverschoben aus irrwitz'ger Ferne, das näherkam, bald heiß entflammt, dass allzubald zu Glut geriet und brennend heiß die Sinne briet. Zu heiß beinah, zu kalt die Folgeferne. Das Herz verkrampft, beinahe implodiert. Heißkalt, die Sinusnervenachterbahnen. Zwei Krümel, links und rechts, wie Augen auf glänzenden Tellern. Doch flaches Porzellan dazwischen. Und nicht nur das und immerhin. Ein Band riss ein, nur halb gewollt und doch nie ganz entzweit. Allmählich sanken traumseidene, doch dunkle Nebelschleier hinab und umhüllten gar beide. Wo zieh'n sie hin, die silbrigdunklen Schwaden? Kein Dunkel weit und breit, doch mehr noch still.

"Niemand ist so verrückt, daß er nicht noch einen findet, der noch verrückter ist und ihn versteht."

(Friedrich Nietzsche)

Dienstag, Mai 02, 2006

Verliebt in Kalbfleischschnipsel

Tzatziki klebte klecksweise zwischen Vikkes hellblonden Bartstoppeln auf beiden Seiten seiner malmenden Backen. Jonas saß ihm gegenüber und starrte gedankenverloren aus dem verschlierten großen Schaufenster. Der Nachmittagsregen ergoss sich gelangweilt auf das Trottoir. Auf der anderen Straßenseite trugen Afrikaner Keyboards, Gitarren und Congas aus dem Hintereingang einer Baptistenkirche in einen Lieferwagen. Zwei von ihnen tanzten eine halbe Minute im kalten Regen, nachdem sie eingeladen hatten und schlurften dann zurück ins Kirchengebäude. Sie lachten. Schultern hochgezogen.

Krack.
Knusprig krachte es, als Vikke seine strahlend weißen Zähne ein weiteres Mal ins aufgebackene Fladenbrotviertel seines Döners hackte und den mächtigen Bissen verschlang. Kurz baumelte ein halber Zwiebelring noch aus dem Mundwinkel, wurde aber flugs durch die hinterhergeschlürft. Vikke grinste schräg, als Jonas schmunzelnd dessen Kaubewegungen beobachtete. Nahezu niemanden kannte Jonas, der eine so liebevolle und zärtliche Leidenschaft für Döner entwickelt hatte wie Vikke. Halb angetrunken konnte er Stunden mit wachsender Begeisterung im Internet zubringen, um dort Dönerfotos zu vergleichen und bewerten. Über seinem Schreibtisch klebte die Speisekarte seines Lieblingsdönerladens, dem „Aleppo Grill“ an der Steinfurter Straße. Fast verliebt glitzerten seine Augen beim Blick auf die kleinen Fotos mit den Besitzern hinter ihrem Tresen, das Messer am Grillspieß. Als er kürzlich umzog, war die künftige Distanz zum Aleppo Grill tatsächlich auch ein gewichtiger Faktor für die Auswahl der neuen Wohnung. Neben einem Metropolis-Poster hing über seinem Bett auch eine Döner-Flagge, die er spätnachts einmal dank Räuberleiter in der Nähe des Bahnhofs geklaut hatte.

„Ber iff wirkliff bar miff fo flefft“, mümmelte Vikke, noch mit dicken Backen. „Bitte?“ Vikke schluckte hastig. „Der ist wirklich gar nicht so schlecht.“ Ein Freund eines Freundes hatte den beiden empfohlen, doch mal diesen Dönerladen auszuprobieren, bei dem es angeblich noch weitaus besser schmecke als beim Aleppo Grill. „Aber… jetzt habe ich ein schlechtes Gewissen.“ „Wieso das denn?“ „Naja, es ist ja schon ein wenig wie Fremdgehen. Wie absichtliches, hochbewusstes Fremdgehen.“ „Äh… was?“ „Weißt Du, wenn mich der Dönerhunger überfällt, kann es natürlich schon mal vorkommen, dass ich spontan in die nächstgelegene Dönerbude hüpfe, um mir dort einen Döner zu kaufen. Das ist dann vielleicht wie spontan besoffen rumknutschen auf einer Party, wenn man schon gar nicht mehr merkt, was man da gerade tut, und was auch gar nichts zu sagen hat. Aber das hier… ich habe vorher genau geplant hierhin zu fahren und bei einer fremden Dönerbude einen Döner zu essen. Ich werde meiner festen Stammdönerbude hoch bewusst untreu.“ Jonas kräuselte die Stirn und lachte. „Spinner! Und überleg mal: So viel Döner Du auch isst, nur von Dir könnte der Aleppo Grill doch auch nicht überleben. Die verkaufen ja auch anderen Menschen als Dir Döner.“ „Naja, aber meine Döner sind sicher mit viel mehr Liebe gemacht.“ „Möglich. Das ist dann aber fast so, als wenn Du mit einer Prostituierten liiert wärst.“ Vikke verschluckte sich fast. Entrüstet glupschten seine Augen fast aus ihren Höhlen. „Wie bitte?“ „Naja, nehmen wir an, Du wärst mit einer Prostituierten zusammen. Da weißt Du auch ganz genau, mit wie vielen Männern sie Tag für Tag schläft oder schlafen muss, und das einzige, was Dich vor zu viel Eifersucht rettet, ist, dass Du Dir einredet, dass sie mit Dir viel liebevoller schläft und sich nur Dir leidenschaftlich hingibt, während der Rest gleichgültiges, Geld bringendes Pflichtgeruckel ist.“ „Und das heißt im Umkehrschluss?“

Vikke versuchte, seine Tzatzikiflecken von der Backe zu lecken, verschmierte sie aber eher. „Soll das heißen, wenn ich eine Freundin im horizontalen Gewerbe habe, die von Berufs wegen her mit anderen Männern schläft oder schlafen muss, dass ich dann auch einfach mit anderen Frauen schlafen darf, geplantermaßen sogar?“ Jonas kratzte sich am Kinn und zog die Schultern hoch. Schweigen fiel zwischen die beiden. Stumm kauten sie an ihren Dönern herum. Die Afrikaner hatten inzwischen ihren Lieferwagen fertig beladen und verabschiedeten sich von einem schwarz gewandeten Mann, der der Pastor sein konnte. Der Regen war schwächer geworden. Dann murmelte Vikke: „Aber Tobi hatte recht, der Döner hier ist gut. Wirklich gut. Der zweitbeste Döner, den ich hier bisher gegessen habe. Nach dem Aleppo Grill.“