Ich schwärme noch heute: Eine Sternstunde
Schon als wir um die Kurve biegen, und sich das wildromantische Panorama dieses kleinen Bergdörfchens durch den milden Dunst schält, schlägt das Herz begeistert und die Augen sehen sich kaum satt. Die Sternenzeiger ticken indes erst kurz später los. Mein Vater hatte sich schon den ganzen Urlaub gefreut, ich hatte bis kurz vorher keine Ahnung: Wir würden essen gehen. Ganz besonders. Hier in Gordes, an einer niedlichen Berghanggasse liegt ein Häuschen, an dem man wegen seiner Unscheinbarkeit fast vorbeischlendert. Die provencetypischen hellblauen Fensterläden, ein Postkartenständer, drei kleine Buchsbäume in Terracottatöpfen, eine Schürze neben dem Eingang. Pittoresk, aber in dieser Gegend nicht ungewöhnlich. Jedoch! Darin findet sich das vielleicht herzerwärmendste Bistro der Welt: „La Pause“. Es taucht in keinem Touristenführer auf – somit bekommt Ihr hier einen kulinarischen Geheimtipp!
Zwei knuffige alte Herren, ein Deutscher und ein Frankokanadier, haben sich vor Jahrzehnten kennen gelernt, ineinander verliebt und haben zunächst in Kanada gelebt, ehe sie des Klimas wegen die Zelte ab- und in die Provence aufbrachen, um hier in ihrem Lebensherbst ein winziges Restaurant zu eröffnen. Nur für drei winzige Tische birgt das kleine Esszimmer Platz. Auf der anderen Straßenseite am Hang stehen noch zwei Tischchen im Schatten. Nur vier Gerichte zieren die Speisekarte. Die beiden alten Herren kochen, was Ihnen schmeckt und daran darf man gern teilhaben. Manchmal denken sie sich auch spontan etwas aus.
„Haben Sie Zeit mitgebracht? Wir haben noch einen Tisch vor ihnen, der bedient werden muss“, fragt uns der rosabehemdete deutsche Herr. Haben wir. In der Küche spült sein Freund gerade mit Pril einen Blechkochtopf durch, schneidet Zwiebeln und Tomaten, durchwühlt seinen Kühlschrank. Wir schauen ihm dabei zu und betrachten das obskure Sammelsurium seltsamer Gegenstände, mit denen die Beiden ihr kleines Reich liebevoll dekoriert haben. Zwei Kakteen räkeln sich in Blumentöpfen mit Kuhfellmuster. Die Außenseite der Fensterbank ist mit Kunstrasen beklebt. Auf einem abgewetzten Sekretär bändelt die Schere mit einem dicken Kugelschreiber an. Der Feuerlöscher hat es sich in einem geschnitzten Holzeimer neben der alten Singer-Nähmaschine bequem gemacht.
In der Glasvitrine des uralten Holzschranks zanken sich die liebevoll drapierten Krippenfiguren darum, welche von ihnen denn nun dem Himmel am nächsten sind. Die Teedosen aus Blech hören gar nicht mehr zu. Das Silbergeschirr rümpft die Nase. Die alten Glaskaraffen tratschen über den neuen Basilikum im Zinkeimer. Sie alle kennen das Krippenpuppengezänk seit Jahren.
„Ich nehme Ihre Bestellung noch nicht auf. Mein Freund ist noch nicht ganz soweit. Und für unsere Gäste kochen wir ja alles frisch.“ Der Rosabehemdete kommt noch einmal. Er atmet schwer, seine Haut ist fahl, er schleicht nur langsam. Wir warten gern. Sein Freund bringt uns derweil eine eiskalte Flasche Cidre. Seine Schürze ist speckig und schief geknotet. Wir trinken den eiskalt perlenden Apfelwein, und wir trinken die Atmosphäre, die kaum in Worte zu fassen, aber so unglaublich herzerwärmend und auf karge Weise magisch ist. Die schrullige aber von Herzen kommende Sprödigkeit der beiden Alten, die kleine Küche, in der sie alles allein und von Hand selbst machen, die schräge, seltsame Einrichtung, die karge, herzliche Ehrlichkeit. Aus den Boxen eines kleinen Ghettoblasters in der Ecke singt Billie Holiday „Blue moon“. Dann dürfen wir doch bestellen. Und kurze Zeit später bekommen wir auch schon unsere riesigen Teller, auf denen eine große Portion Tagliatelle an provencalischem Tomaten-Fleisch-Ragout darauf warten, mit uraltem Silberbesteck genossen zu werden. Und wie köstlich es war. Wunderbar zart, toll gewürzt. Einfach, aber herrlich. Zum Nachtisch gibt es noch selbstgebackenen Apfelkuchen mit einer Extrakugel Vanille-Eis. Und langsam naht der Moment, an dem wir endgültig fertiggegessen haben werden. Schon lange habe ich mich gegen diesen Moment nicht mehr so gesträubt. Zu krude ist die Idylle hier, zu liebevoll ist das Essen zubereitet, zu niedlich ist das alte, schon etwas kränkelnde Pärchen mit seiner entwaffnenden Ehrlichkeit. Es zieht mich wieder in die Provence. Gleich morgen möchte ich aufbrechen und wieder nach Gordes fahren, um dort zu speisen. Egal wer von Euch in Bälde die Provence bereisen sollte: Fasst Euch ein Herz und kehrt in „La Pause“ ein, solange die beiden alten Herren noch die Kraft haben, ihre Gäste zu bekochen. Bei mir wird es nicht morgen sein, bis ich dorthin zurückkehre, morgen geht es zunächst nach Budapest.