Fast wie Buddha thront er da, inmitten überdrehter Derwische auf einem zerkrümelnden Ytong-Block knapp über dem Boden. Stoisch, reglos, freundlich. Ein gemütliches Lächeln umspielt seine von stoppeligem Bart umwucherten Mundwinkel. Kurz wird der Blick auf den kleinen Spalt zwischen seinen Schneidezähnen frei. Um ihn herum zuckt es wild. Drahtige Körper toben in exaltierten Biegungen über die Bühne. Schweiß schäumt wie Gischt. „This man is a saint“, keucht Joe Haege außer Atem ins Mikrofon und wischt sich einige glitzernde Perlen mit dem Hemdsärmel von der Schläfe. Joe tätschelt dem Dicken dankbar den Kopf. Doch warum?
Schnitt zurück.
So wirklich auf der Pfanne hatte ich sie nicht. Neugierig auf sie war ich, aber nicht vornehmlich wegen ihnen da. Die
31 Knots waren mir namentlich und bislang nur von einem einzigen Song her ein Begriff. Was ich gelesen hatte, fand ich auch äußerst spannend, es war also ein halber Sprung ins Unbekannte. Ins großartige
Gleis 22 gelockt hatten mich vielmehr die wunderschönen
Art Of Fighting aus Australien, die hier das Vorprogramm bestreiten durfte. Fast möchte man „nur“ sagen.
Claire BowditchAls wir das Gleis betreten, zupft die allererste Künstlerin des Abends, Claire Bowditch, sich schon durch ihr erstes Lied. Ganz allein steht sie in einem orangefarbenen Kleid mit dezenter Kittelschürzenähnlichkeit auf der Bühne und singt zur Akustischen niedliche Lieder über Liebe, göttliche Männer und andere Dinge, über die man eben so singt. Die Musik ist hübsch, wie auch sie selbst, ihre Stimme gemahnt mal an Heather Nova, mal an die Cranberries-Sirene Dolores O’Riordan. Gefällt angenehm, hinterlässt aber bei allem keine tiefen Erinnerungsspuren im Gedächtnis.
Art Of FightingDer Vorhang zieht sich zu, kribbelnde Vorfreude bricht sich Bahn. Hinter schweren, dunklen Stoffbahnen wird gerödelt, geschraubt, justiert. Dann weichen sie schüchtern beiseite, und plötzlich sind sie da.
Art Of Fighting, eine der vielleicht zärtlichsten Bands des Planeten. Und sie beginnen mit ihrem vielleicht schönsten Song überhaupt, „Akula“ von der flüsterleisen aber grandiosen
Wires. Sanft glitzern die ersten Akkorde auf, einfühlsam streichelt Marty Brown mit den Besen die Trommelfelle und liebkost die Becken. Traumhaft weich und angenehm, herrlich zart wie Erdbeercreme haucht der leicht beschnurrbärtete Ollie Browne die schwebenden Gesangslinien ins Mikro, sein traumverlorener Bruder Miles kratzt sich an der Wange, stimmt stumm seine Gitarre und schickt funkelnde Obertöne auf die Reise. Die wunderschöne und erstaunlich schwangere Frau im Bunde, Peggy Frew, zupft mit ihren melodischen Bassfiguren das Fundament. Schon nach wenigen Takten ist das Publikum verzaubert.
Keine großen Gesten, die Augenlider geschlossen, keine Show, der Raum gehört der Musik. Der Moment erstarrt in Schönheit, die Zeit fließt in eins zusammen und bleibt eine kurze Weile stehen. Ein beinahe magischer Sog. Fast mag man gar nicht klatschen, um nicht aufzuwachen, die Begeisterung ist dann aber doch zu groß. Eine knappe Stunde wird feinsinniges Pianissimo zelebriert, dynamisch aufgelockert von zarten, dann aber mächtigen Ausbrüchen, krachenderen Grooves, Gitarrenzerren. Schließlich soll es auch nicht zu lieblich werden. Dann zerrieselt der Lärm wieder, wird aufgefangen von perlenden Gitarrensphären. Vielleicht sind sie zu wenig effekthascherisch, zu freundlich, zu leisetretend, um den Durchbruch in der Musikszene zu schaffen. So touren sie noch immer als Vorband durch die Lande, obgleich sie ganz Anderes verdient hätten. Bis auf Weiteres muss Ollie Brown insofern wohl noch auf seinen alten, zerschlissenen Gitarrengurt zurückgreifen, den er notdürftig mit Teppichklebeband an seiner Stratocaster festgeklebt hat, ehe er sich einen neuen leistet. Vielleicht möchte er aber auch gar keinen neuen. Unter tobendem Applaus verabschieden die Vier sich von der Bühne, kommen schüchtern noch zurück für einen letzten, herrlichen Song und räumen dann das Feld für die 31 Knots.
31 KnotsNeue Pause, neues Pils. Und dann die Überraschung. Ein letztes Mal quietschen die Rollen, als der Vorhang aufgezogen wird. Wirre Samples torkeln aus den Boxen, inbrünstig und kehlig packt Joe Haeges Stimme zu und dann bricht der Mördergroove los. Kunst voll verwobene, abgehackte Stakkato-Riffs zischen in exakt abgemessenen Kurven nach vorn. Vertrackte Rhythmen peitschen hinterher, der Bass brodelt punktgenau darunter. Jetzt kommt Leben in die Bude. Krachender Rock, monströse Klangwälle, dynamische Achterbahnfahrten zwischen brachial und hauchzart, packende Melodien, durchdachte Samplefetzen.
Eine irrwitzige Mischung, vielleicht als ob Bright Eyes, Mclusky und At the drive-in gemeinsame Sache gemacht und sich zwischenzeitlich noch einen Schluck Reaggae und eine Schnitte Blood Brothers gegönnt hätten. Wild fegen Joe und der zweite Saitenmann, Jay Winebrenner über die kleine Bühne. Es beginnt von der flachen Saaldecke zu tropfen. Das hier ist heiß! Und der derbst groovende Drummer Pellicci wemmst derart feste in die Felle, dass sich Jay permanent auf vor die Bassdrum stellen muss, damit sie nicht rutscht. Dann fliegt erst der Schlegel vom Fußpedal durch die Gegend, kurz später bricht der Kettenbolzen der Fußmaschine. Rock’n’Roll! Leidenschaft! Ersatz muss her, und in der Pause wird nun auch der Dicke auf die Bühne geholt, setzt sich auf den Ytong-Quader vor der Bassdrum. Der massivste Teil des Publikums als Groove-Retter. Jetzt rutscht nichts mehr. In krummen wie geraden Metren jagen die Drei nun weiter, umtosen ihren stoisch dasitzenden Ruhepol, der sich selbst die im Takt schwabbernde Körpermasse nicht anmerken lässt. Joe springt derweil solierend von der Bühne, mischt sich mitsamt der Klampfe ins dicht gedrängte Publikum. Das ist begeistert, johlt, kreischt, tanzt, wird am Ende gar noch auf die Bühne geholt, als Joe sich abermals ins Publikum schwingt, um sich dort eine Krawatte zu knoten, während die anderen Zwei sich packenden Improvisationen hingeben. Alles birst, alle Dämme brechen, das Publikum zollt frenetischen Applaus. Vielleicht
die Entdeckung des Jahres, eine fantastische Liveband! Wahnsinnig, mitreißend, Rock’n’Roll!