Kölle, wir kommen (Teil II)
Deutlich verschätzt haben wir uns bei der Länge der Schlange vor dem Eingang. Unsere Jacken kuscheln sich im Autokofferraum aneinander, wir selbst überplapperten unser leises Frieren, lassen uns von eisbetautem Regen benieseln und merken mal wieder, wie wenig kühles Pils doch dabei hilft, sich innerlich aufzuwärmen. Doch unser Platz in der Schlangenwurst nähert sich dem vorderen Ende. Die Gods of Blitz wummern schon los, es poltert durch die alten Steinmauern, doch um kurz nach vier und anderthalb Songs später sind auch wir in der heiligen, warmen Vorhalle.
Gods of Blitz
Nach kurzem Stopp am Merch-Stand sausen wir in den dunklen Stahlträgersäulenbauch des Konzertsaals. Überraschenderweise ist es weniger die Musik als die Gestaltung des Kopfbewuchses, der uns zu Diskussionen anregt:
Mit halbaufgeknöpftem Hemd grätscht der Sänger und Bassist mit seiner strubbeligen Katalogfrisur über die Bühne und zeigt, was er im Volkshochschulkurs "Posing" gelernt hat. Der Drummer schüttelt sein Haar für uns und tritt den Beweis an, dass Metalmatten doch noch nicht vom Aussterben bedroht sind, während sein Guitarrero frisurell seinen alten Helden von Pantera zu huldigen scheint. Die vier Berliner schrubbeln solide ihr Programm runter, darunter auch ihre kleinen Untergrundhits "Greetings from flashbackville" und "The rising". Schwungvoller Rockpop zwischen Franz Ferdinand, Hard-Fi, Mando Diao, den Beatsteaks und was eben sonst noch so angesagt ist, momentan. Wirkt ein wenig wie Reißgebretter, das Ganze. Optisch und klanglich. Gefällt, begeistert aber nicht. Das Kölsch vom Tresen plörrt mehr als es perlt, aber ich habe Durst und stürze es fix runter. Oh, Konzert schon vorbei? Egal. Holste noch Bier?
Eine unerwartete, aber sehr sympathische Begegnung während der Umbaupause mit einer bis dato Unbekannten. Der Duft von Bockwurst, Buletten und Kartoffelsalat schwabbert durch die Türen zum Foyer. Der Schwips hat inzwischen seine fuseligen Krallen ins Bewusstsein der überraschend massiv vertretenen Turbojugend gekrallt. Munter wird getorkelt, gestolpert, sich untereinander geprügelt, Brillen zerdeppert, gegrölt, gekotzt, noch indes in steigerbarem Ausmaß.
Dredg
Das Licht senkt sich wieder. Dredg machen ihre Aufwartung. In mir kribbelt Vorfreude hoch und Neugier - war ich von ihrem laschen Auftritt zur besten Kaffee- und Kuchenzeit auf dem "Rheinkultur" im Sommer doch ziemlich enttäuscht. Doch wieviel besser diese Band im Dunkeln funktioniert! Verhalltes zirpt die Gitarre, verfängt sich in eckigen Motivfetzen, bauscht sich auf. Der Bass pulst, geschmeidig sausen die Finger über das Griffbrett. Der Drummer - ein begnadeter Poser vor dem Herrn - spielt mit Rhythmen und Metren wie Ronaldinho mit der Lederkugel und schafft es zudem noch, gleichzeitig mit links Klavier zu spielen und rechts weiterzugrooven. Zwischendurch grummelt der Gitarrist in seinen fusseligen Bart, zuckt grimmig. Seine Gitarre oder das Kabel sind wurmstichig und machen nur selten, was sie sollen. Und doch. Rechtzeitig zum Refrain ist der Wackelkontakt gerichtet und der Pathosvulkan kann gezündet werden und bricht auch alsbald aus. Melodielinien von weltentrückter Schönheit überglitzern die wuchtigen, heiß brodelnde Riff-Lava der Rhythmusgruppe. Ein heißkaltes Wechselbad zwischen verträumt lyrischer Sphäre und bretternder Rockkelle. Immer wieder gleichermaßen witzig wie faszinierend am Ende: Dino, der Drummer, groovt in Ekstase weiter, während zwei Roadies Stück für Stück sein Schlagzeug abbauen, ehe nichts davon mehr übrig ist. Grandios, mitreißend, Kandidat für das beste Konzert des Jahres.
The Soundtrack Of Our Lives
Die ersten Skandinavier schnappen sich den Staffelstab. Eingesprungen für die grandiosen Billy Talent, schwummern The Soundtrack Of Our Lives ihren schrammeligen, melodieseligen Sechzigerjahrerock. Der buschbärtige Sänger Ebbot Lundberg hat sich wieder einen familienzeltgroßen Kaftan über seinen kugeligen Leib geworfen und predigt mit langem weißem Schal und ebenso aus- wie einladenenden Gesten wie ein Priester der immer zahlreicher einströmenden Rockgemeinde. Die Gitarre brät, das Schlagzeugscheppert, die Orgel schwurbelt. Ein vergnügliches Set der großen Schweden.
Life Of Agony
Die Frikadelle liegt noch schwer im Magen, da kommen die filigranen Brachialisten auf die Bühne. Der Bruch ist gekittet, sie sind zurück: Life Of Agony. Mit orkanischer Wucht fegen sie den Ohrenschmalz aus den Gehörgängen und jeden Zweifel aus dem Bewusstsein, ob man überhaupt noch einen Pfifferling auf sie setzen sollte nach ihrer Wiedervereinigung. Keith Caputo ist immer noch die flitzeflinke, kleine Weltverbesserer mit der großen Kehle, der mit Haifischfrisur wie ein elastischer Gummiknüppel über die Bühne saust. Ultratieftönende Grummelriffs krachen mit explosiven, messerscharfen Rhythmen aufeinander. Der Bass ballert, die Gitarre donnert, die umgedrehte Baseballkappe zittert im Krachgewitter. Ein paar Floskeln hat Keith auch auswendig gelernt. Wir sind das beste Publikum der Tour oder gar aller Zeiten. Er liebt uns. Seitenhiebe gibt's zwischendurch für alle Skeptiker, die Runterladefetischisten und die Unkenden, die den Jungs nichts als Raffgier für den nerneuten Zusammenschluss unterstellten. Hits gibt's auch. Eigentlich alle. Die Ohren scheppern und pfeifen, als uns Keith mit warmen, ermahnenden Worten verabschiedet: "Stay positive!" We will.
Turbonegro
Jeder Schritt klebt inzwischen. Die Garderobe ist wegen Überfüllung geschlossen. Am Imbiss gibt's die Wurst nur noch ohne Brot. Schaler Bierdunst wabert durchs Foyer. Zertrampelte Servietten, Bier, Schnaps, Cola, Kippen überbappen den gesamten Fußboden. Jetzt schlägt die große Stunde der Uniformierten. Mehrere Hundert Jeansjackenträger der "FDTJ", der freien deutschen Turbojugend, haben ihr Ziel erreicht. Ihre Helden ziehen ein. Die Matrosenmützen werden geschwenkt, der Lippenstift wird schnell und windschief nachgezogen, dem Nachbarn wird noch schnell Bier auf die Matte gekippt, und gemeinsam wird gegrölt und gerockt, dass die Schwarte kracht. Turbonegro sind im Haus! Mit schwabbelnder Bierplautze, verschwitzt klebenden Haaren und verlaufener schwarzer Schminke um die Augen erzählt Henk in gebrochenem Schwedendeutsch in den Pausen wirre Geschichten von Fotzen, Schwänzen, Bier, Rock'n'Roll und St. Pauli. Die Masse grölt und holt mehr Bier. Dass keiner umfällt, trotz sturmflutendem Alkoholpegel und brüllender Hitze, liegt nur am dichten Gedränge. Gemeinsam wird gerockt und gejohlt. Uououououooooooh! Alle Hits haben die Nordlichter im Gepäck und schmettern ihren prollig-selbstironischen Riffrock der Gemeinde um die Ohren, die am Ende noch minutenlang ausharrt und weitergrölt, ehe sie kriegen, weswegen sie hier sind: "I got erection"! Nichts für zartbesaitete Gemüter. Aber großer Sport am letzten Sonntag des Wochenendes.
Mando Diao
Für den schwungvollen Hitreigen zum Ausklang sorgen dann die monsterhippen, kilometerhoch gehypten Tommy-Hilfiger-Werbeträger und Schmockrocker von Mando Diao. Schon beim Anblick von Gustaf und Björn sacken die ersten kreischenden Mädels zusammen wie zu gut geölte Klappspaten. Das Trommelfell erzittert vor der frenetischen Jubelorgie. Ein paar kleine Pickel zucken sich ins Gesicht beim Anblick einiger hyperarroganter Posen von Gustaf, doch der mitreißende, melodieselige und beschwingt nach vorn groovende Rock macht enorm gute Laune. Nicht ganz so packend, wie im Gleis 22 vor zwei Jahren, aber trotz ihrer inzwischen enormen Größe lässt die Band zumindest heute keine Spielfreude vermissen. Scheppert und schwurbelt sich durch Strophen und Refrains, baut unbekannte Wendungen ein, ein Ohrwurm jagt den nächsten. Ein famoser Abschluss eines grandiosen Konzerttags, den wir kurz vor der Zugabe verlassen. Schließlich haben wir auf der Hinfahrt schon genug im Stau gestanden. Auf der Rückfahrt umkurven wir das Gehügel rund um Wuppertal weiträumig, flüchten uns vor überfrierender Nässe und Glatteis bergaufbergab, indem wir gemütlich und stressfrei über Wuppertal nach Hause schnurren. Visions Festivals? Gern wieder!