Wolken in verwaschenem Grau hängen am Himmel wie zu heiß und lang gewaschene Filzmäntel. Gleich einem Schiffsbug, der die Wellen teilt, schiebt sich der Emslandexpress unbeirrbar vorwärts durch die nasse Kälte. Schnödes Einrollen in Bahnhöfe, Türen klappen auf, kurzzeitige Abteilnachbarn steigen aus, neue steigen ein, machen sich breit, winkeln ihre Ellenbogen auf den Sitzlehnen an, schieben ihre Beine zwischen Bank und Mülleimer, rascheln mit Taschen, ziehen den Reißverschluss ihrer grellbunten Regenjacken ein Stück weit auf. Die Türen schlagen wieder zu, der Zug rollt langsam an, dem nächsten Halt entgegen, nimmt wieder Fahrt auf, wühlt sich durch die graue Einöde. Die Zugfahrt als Fernsehserie.
Das Abteil ist kaum gefüllt, fast jedem Fahrgast bleibt eine Viererbank für sich.
Er sitzt am Fenster, neigt den Kopf gegen die türkisgraue Wandverkleidung und starrt gedankenverloren in die durch feuchten Nebel weichgezeichnete Landschaft, die vorbeizischt und sich unter den Blicken, verzerrt, dehnt und auflöst.
Gedanken schwappen ihm durch den Kopf, formen sich zu Wellen, branden, brechen in sich zusammen, ziehen sich zurück und formieren sich erneut, um mit neuem Schwung an ähnlicher Stelle niederzuklatschen. Zerstreut zieht er ein Buch aus seinem angegrabbelten, dunklen Rucksack, schlägt es auf, zieht einen Kuli aus der Vordertasche und beginnt zu lesen. Alle paar Minuten greift er seinen Stift und kritzelt unleserliche Zeichen an den Zeilenrand. Was sie bedeuten sollen, bleibt sein Geheimnis.
Er hat seine beigefarbenen Schuhe ausgezogen, um es sich bequemer zu machen und seine Füße auf das gegenüberliegende Polster legen zu können, ohne harsche Worte mit den Schaffnern auszufechten. Die Zugbremsen kreischen. Metall reibt auf Metall. Liebe Fahrgäste in Kürze erreichen wir. Diesmal ist es Lingen. „Stadt der Kivelinge“ ist in großen Lettern an eine weißgetünchte Wellblechhalle gepinselt. Beinahe jedes Mal hat er den Schriftzug an sich vorbeigleiten sehen. Viele Dutzend Mal. Zum ersten Mal erst fragt er sich nun aber, wer oder was die Kivelinge sind. Er schiebt die Frage in die Schublade zurück, der sie entsprungen war. Momentan kann er sie nicht beantworten. Wozu sich also weiter den Kopf zerbrechen?
Es zischt. Schräg vor ihm öffnet sich die automatische Durchgangstür. Und, oh Wunder, hereingehumpelt kommt in braunem Tuch, das wie ein Kartoffelsack schlapp an ihr herunterhängt, die schrumpelnasige alte Vettel, vor der es ihn tags zuvor noch in der Wahlheimatstadt ein wenig gegruselt hatte. Völlig stoisch hatte sie an der Bushaltestelle gestanden und mit ihrem Gebiss gespielt. Die ausgeleierten Hautlappen rund um die spröden Lippen hatte sie auseinander geklappt und vorgezogen wie eine Schublade, in der man etwas sucht. Einzeln hatte sie die Gebisshälften vorgezogen, zurückgeschoben, hin- und hergedreht als seien sie Holzbausteine eines asiatischen Geduldsspiels. Haftcreme schien ihre Tasse Tee nicht gewesen zu sein. Heute humpelt sie nur schwerfällig an ihm vorbei in Richtung Ausstieg. Ihre Mundwinkel bleiben völlig unbewegt, geblieben ist nur ihr dunkel funkelnder Blick. Unheimlich. Ihre knorrigen Hände stützen sich auf einen krummen Holzgehstock, der dröge raschelt bei jedem Aufsetzen, weil sich matschige Blätter unten daran festgeklebt haben.
Der Bahnhof ist erreicht. Die Türen klappen wieder auf und wieder zu.
Eine Frau mit aschblondem Lockenpony und ausgeleierter Cordhose betritt das Abteil. Ist hier noch Platz? Ja. Danke. Er zieht abrupt seine Füße vom Polster, gibt den Platz auf ihrer Bank frei. Sie stellt neben sich eine ockerfarbene, ornamentierte Ledertasche, auf der schwarze Elefanten ihre Rüssel verknoten und Blumen hochhalten. Neben sich legt sie eine riesige Knäckebrotpackung, groß und rund wie ein ganzer Apfelkuchen. Sie telefoniert. Britta heißt sie, möchte um 12:45h abgeholt werden. In Aschendorf. Langsam wie der Altweibersommer in den Herbst übergeht, blickt er zu ihr herüber. Irgendwo zwischen Blicken und Sehen ziehen seine Augen sich zurück, zögern, bleiben in der Schwebe. An einem festen Punkt in Raum und Zeit spürt er, dass sich die Anstrengung eines Blickes nicht lohnt. Er sieht sie nicht, weil es da für ihn nicht viel zu sehen gibt. Sie liest Platon. Phaidros-Dialoge. Er zieht seine Augen von ihr zurück, pendelt mit dem Blick abwechselnd zwischen den Zeilen seines Buches und der fliehenden Landschaft vor dem Fenstern.
Dann meldet sich der Morgenkaffee und bittet immer dringender um Auslass. Er schlurft widerwillig in Richtung Waggontoilette. Tür auf. Oh, Schüsselübergelaufen, mit Klopapier verstopft, nein danke. Tür zu. Nächster Waggon. Immerhin nicht verstopft. Aber auch das hier ist ein abartiger Abort. Beißender, mieser Mief von abgestandenem Kippenqualm und alter Pisse, die ihr eigentliches Ziel nie erreicht hatte, schwallt ihm entgegen und schneidet sich in die Nasenwände. Kackplacken kleben innen an der blechernen Kloschüssel. So dringend muss er dann doch nicht. Es ist ja auch nicht mehr weit. Als er zurückkommt, sind Knäckebrot und Platonbritta kurz vor dem Aussteigen. Er wendet sich wieder seinem Buch zu. Nur noch wenige Bäume sausen am Blick aus den Augenwinkeln vorbei. Unendliche, flache Weiten. Die Heimat naht. Horizont so weit das Auge reicht. Zwanzig Seiten schafft er noch, bis er im Heimatbahnhof angekommen ist.
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